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Snowboarder Steven Wilkinson mit der leitenden Ärztin Silke Diercksen Arm in Arm nach dem Gewinn der Goldmedaille.

07.04.2025

Heute feiern wir den Weltgesundheitstag

Wie kann die Gesundheitsversorgung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung verbessert werden? Darüber sprachen wir mit Silke Diercksen, leitende Ärztin der deutschen Delegation bei den Special Olympics World Winter Games Turin 2025

Am 7. April 2025 feiern wir den Weltgesundheitstag, einen Tag, der der Förderung der weltweiten Gesundheit gewidmet ist. In diesem Jahr legen wir das Augenmerk auf die Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, die nach wie vor im Gesundheitssystem benachteiligt sind. In unserem Interview sprechen wir mit Silke Diercksen, Ärztin für Hals-Nasen- und Ohren in Berlin. Seit 2014 setzt sie sich mit großem Engagement als Clinical Director Healthy Hearing für das Special Olympics Gesundheitsprogramm Healthy Athletes ein. Ihre umfangreiche Expertise als Teamärztin für Special Olympics Deutschland (SOD) sowie als stellvertretende Vorsitzende des Fachausschusses Gesundheit erweist sich dabei als sehr wertvoll. Silke hat kürzlich als leitende Ärztin der deutschen Delegation an den Special Olympics World Winter Games in Turin teilgenommen und bringt wertvolle Erfahrungen und Perspektiven mit, um die Herausforderungen und Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung einzuordnen. Weiter sprechen wir mit ihr darüber, wie das Gesundheitssystem verbessert werden kann, um den Anforderungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gerecht zu werden und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Ausbildung von Ärzt*innen und medizinischem Personal zu verbessern. Das Interview führte Nadine Baethke.
 

Silke, kannst du uns über deine Rolle bei den World Winter Games in Turin erzählen? Was waren deine Aufgaben als leitende Ärztin der deutschen Delegation?

Silke Diercksen: Grundsätzlich bin ich mit meinem medizinischen Team die Ansprechperson für alle medizinischen Belange innerhalb der Delegation. Das kann eine Abstimmung mit den Coaches bezüglich einer Medikamentengabe sein, die Behandlung akut erkrankter Athlet*innen oder im Notfall die Begleitung ins Krankenhaus. Dabei stehe ich im engen Austausch mit den Coaches, der Delegationsleitung und den betreuenden Personen. Im Krankheitsfall eines Athleten oder einer Athletin gilt es abzuwägen, ob ein Start beim Wettkampf, auf den so lange hingefiebert wurde, möglich ist.

Gibt es besondere gesundheitliche Herausforderungen bei Athlet*innen mit geistiger Beeinträchtigung, die beachtet werden müssen?

Silke Diercksen: Ja, die gibt es. Die Betreuung von Athlet*innen mit geistiger Beeinträchtigung ist sehr komplex und die Anforderungen sehr heterogen. Viele unserer Athlet*innen haben mehrere Grunderkrankungen wie beispielsweise eine Epilepsie, und müssen Medikamente nehmen. Die Reise zu Weltspielen ist zudem eine stressbehaftete Ausnahmesituation, die zu körperlichen und psychischen Veränderungen führen kann. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist somit auch das beruhigende und positive Einwirken auf die Athlet*innen.

Inwiefern erleben Menschen mit geistiger Beeinträchtigung Benachteiligungen im deutschen Gesundheitssystem?

Silke Diercksen: Das passiert auf verschiedenen Ebenen. Bereits der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen ist für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung erschwert. Zudem reden wir Medizinern oft zu kompliziert, die Anwendung der Leichten Sprache ist noch nicht genug verbreitet. Die besondere Situation eines Arztbesuches bedarf neben fachspezifischer Kenntnisse auch differenzierter Untersuchungsbedingungen und angemessener Kommunikation. 

Welche spezifischen medizinischen Bedürfnisse haben Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, die häufig übersehen werden?

Silke Diercksen: Oft reichen schon die "normalen" medizinischen Bedürfnisse, um übersehen zu werden, da Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ihre Beschwerden nicht immer adäquat äußern. Ich möchte da einen Fall aus meiner Praxis schildern: Ein autistischer Patient wurde mir dank der Initiative seiner Eltern vorgestellt. Er zeigte ein autoagressives Verhalten, in dem er sich häufig auf die Nase schlug. Ich konnte feststellen, dass die Nase durch Polypen komplett verlegt war und er keine Luft durch die Nase bekommen konnte. Auch ein durch Ohrenschmalz verstopftes Ohr wird nicht unbedingt als solches beklagt, sondern kann durch die Hörminderung zu Verhaltensänderungen führen.

Welche Maßnahmen können deiner Meinung nach ergriffen werden, um die Ausbildung von Ärzt*innen und medizinischem Personal zu verbessern?

Silke Diercksen: Die Lerninhalte in den Ausbildungscurricula müssen ausgebaut werden und auf die komplexen Behandlungsanforderungen eingehen. Natürlich habe ich die Diagnosen und Syndrome mal im Studium gelernt, die psychosozialen Aspekte stehen aber noch hintenan. Mit dem Curriculum der Bundesärztekammer "Medizin für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oder mehrfacher Behinderung" gibt es bereits ein Angebot für interessierte Fachärzt*innen. Wir müssen aber früher ansetzen, um das Interesse erstmal zu wecken. Mir selber hat der persönliche Kontakt durch meine Tätigkeit bei SOD geholfen und lässt mich jedes Mal weiter lernen. 

Welche Rolle spielen Organisationen wie Special Olympics Deutschland bei der Sensibilisierung und Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung?

Silke Diercksen: Wir haben bei Special Olympics mit Healthy Athletes ein Gesundheitsprogramm, das den Athlet*innen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene neben den Wettkämpfen ein freiwilliges, niedrigschwelliges Angebot zur Gesundheitsvorsorge macht. Hier werden in sieben Fachdisziplinen Untersuchungen durchgeführt und Empfehlungen ausgesprochen. Die weltweit erhobenen anonymisierten Daten liefern uns wertvolle Hinweise auf die Versorgungssituation von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Und ganz nebenbei treten unsere zahlreichen Volunteers dabei häufig erstmals in direkten Kontakt mit Menschen mit Beeinträchtigung und bauen dadurch eigene Hemmschwellen ab. 

Welche Veränderungen wünschst du dir für die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung?

Silke Diercksen: Ich wünsche mir, dass Barrieren abgebaut, medizinische Kompetenzen verstärkt und Netzwerke ausgebaut werden. Die Förderung von Medizinischen Behandlungszentren für erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) ist dabei ein wichtiger Schritt.