Es sind noch knapp 150 Tage bis zur Eröffnungsfeier der Special Olympics World Games Berlin 2023. Was bewegt Sie an so einem Tag mehr: Pure Vorfreude oder eher Anspannung, weil noch viele Aufgaben zu bewältigen sind bis zum 17. Juni?
Mich bewegt beides, aber mein Naturell ist so, dass ich derzeit stärker die Anspannung spüre. Ich bin mir der Mammutaufgabe für unseren Verband sehr bewusst. Alle Verantwortlichen aus Haupt- und Ehrenamt arbeiten sehr eng zusammen. Ich bin in intensivem Austausch mit Sven Albrecht, unserem Bundesgeschäftsführer und Vorsitzenden der Geschäftsführung des Organisationskomitees der Weltspiele. Meine Kolleg*innen im Präsidium, in den Landesverbänden und ich haben großes Vertrauen in das Team. Wir wissen, dass die einen tollen Job machen. Deshalb freue ich mich zugleich. Die Special Olympics Weltspiele sind ein riesiges Ereignis mit einer nachhaltigen Wirkung für Inklusion im Sport. Wir werden Gastgeber für Athlet*innen aus der ganzen Welt sein, und das allein ist natürlich Vorfreude pur, auch wenn sie sich genau an der Stelle wieder mit der Anspannung mischt, weil wir natürlich alles bestmöglich vorbereiten wollen.
Das Team SOD ist bereits nominiert – wie ist die Stimmung bei den Athlet*innen?
Die Freude der Athlet*innen ist häufig sehr viel unverstellter als die Freude von Funktionären. Sie können sich so originär freuen über das, was gerade ist, das war auch bei der Nominierung dieses großen SOD-Team Deutschland zu spüren. Es war für alle Beteiligten ein wunderbares Highlight. Wir werden in den nächsten Monaten noch weitere Gelegenheiten haben, uns gemeinsam mit den Athlet*innen zu freuen, zum Beispiel am Einkleidungs-Wochenende Anfang April. Das ist nochmal etwas ganz Besonderes, wenn die Sportler*innen durch das Tragen der einheitlichen Kleidung spüren, dass jetzt Sportdeutschland auf sie blickt und dass sie die Chance haben, auch als Botschafter*innen für ganz Deutschland für die Athlet*innen aus aller Welt tätig zu sein.
Und natürlich bei den Wettbewerben gut abzuschneiden.
Klar. Aber da spüre ich wieder meinen Anspannungsgedanken. Denn durch die Pandemie war es nicht einfach für die Athlet*innen, sich individuell gut vorzubereiten. Die Einschränkungen galten für den ganzen Sport in Deutschland und für Menschen mit Behinderungen ganz besonders. Sie hatten lange Zeit überhaupt keine Chance, regelmäßig Sport zu treiben. Deshalb müssen sie jetzt die noch fast 150 Tage bestmöglich nutzen, um sich gesundheitlich und sportlich so aufzustellen, dass sie am Ende auch mit sich zufrieden sind.
Schon bei den Nationalen Spielen im Juni war das nicht einfach. Sie haben Berlin 2022 dennoch als Meilenstein für künftige Entwicklungen gewürdigt. Wie sieht Ihre Bilanz mit einigem Abstand aus? Sind Sie zufrieden mit den Impulsen, die die Spiele in den Sport und in die Gesellschaft gegeben haben?
Hochzufrieden. Es waren ja auch Testspiele für die Weltspiele. Für uns waren es deshalb Nationale Spiele in einer anderen Dimension. Wir werden nun reflektieren, was wir von diesen besonderen Spielen Berlin 2022 für die Ausrichtung künftiger Nationaler Spiele mitnehmen können. In den Medien, in allen Bereichen bis in Social Media hinein, sind wir sehr viel intensiver wahrgenommen worden als bei bisherigen Nationalen Spielen. Durch diese Berichterstattung ist öffentlich geworden, wie glücklich die Athlet*innen waren. Es sind viele Geschichten erzählt worden. Es ist gelungen, die Sichtbarkeit der Athlet*innen nachhaltig zu verbessern. Ich hoffe sehr, dass diese neue mediale Qualität auch hilft, dass die Menschen in Deutschland besser verstehen, mit welchen Handicaps Athlet*innen mit einer geistigen Beeinträchtigung immer noch zu kämpfen haben, welchen Situationen sie begegnen, aber gleichzeitig auch, wie stark sie persönlich von regelmäßigem Sporttreiben und so einem Spitzenereignis profitieren können. Das ist für mich das Wichtigste.
Auch als Mitarbeitende in der Organisation der Spiele?
Aber ja. Die Athlet*innen sind Teil der Organisation der Spiele. Mit ihrem Expertenwissen sind sie sehr wichtig und bei künftigen Sport-Großveranstaltungen unverzichtbar. Die Emanzipation der Athlet*innen ist eine der wichtigsten Entwicklungen von Special Olympics Deutschland in den letzten Jahren. Sie waren und sind Gestalter bei den Nationalen Spielen 2022, aber auch bei anderen Projekten. Im Projekt LIVE machen Athlet*innen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zum Beispiel selbst eine Fortbildung als Teilhabeberater*innen. Sie beraten in den Kommunen und in den Sportvereinen, wie Teilhabe wirklich funktionieren kann. Die positive Entwicklung all dieser Athlet*innen, ihre Aussagen, ihre Mitarbeit, ihr Selbstbewusstsein beeindrucken mich sehr.
Was erhoffen Sie sich von den Weltspielen?
Die Special Olympics Weltspiele kommen erstmals nach Deutschland. Auf dieses Sportgroßereignis haben wir lange hingearbeitet. So konnten wir schon 2018 unsere Bewerbung erfolgreich abschließen. 7000 Athlet*innen aus 190 Nationen werden nach Berlin kommen. Und vorher erleben sie das so genannte Host Town Program jeweils vier Tage lang in einer von 220 Kommunen in ganz Deutschland. Dieses Programm, in dem die Kommunen jeweils Gastgeber für eine Nation sind, haben wir mit anderen nachhaltigen Projekten wie „Wir gehören dazu“ oder LIVE zusammengebracht. Dadurch haben sich überall Netzwerke gebildet, die dazu beitragen können, dass in Zukunft mehr Sport für Menschen mit geistiger Behinderung ermöglicht wird. Die Weltspiele werden zeigen, welche Kraft die Athlet*innen entwickeln können und zu welch beeindruckenden Leistungen sie fähig sind. Und das Host Town Program als Teil von #ZusammenInklusiv kann mithelfen, dass wir in den Jahren nach den Weltspielen sagen können, wir haben etwas Bleibendes erreicht.
Ihr Hauptziel ist also, dass mehr Menschen mit Beeinträchtigung die Möglichkeit haben, Sport treiben zu können?
Genau. Aus diesem Grund haben wir beim Bewegungsgipfel der Bundesregierung vor wenigen Wochen besondere Anregungen an die Politik gegeben. Der Bewegungsgipfel sollte nach der Pandemie dazu dienen, die Bedeutung von Sport und regelmäßiger Bewegung für viele Lebensbereiche von Menschen zu unterstreichen und zu fördern. Für uns ist es ein wichtiges politisches Ziel, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen immer mitgedacht wird, bei all den Maßnahmen, die beim Bewegungsgipfel auch benannt wurden.
Was ist dabei das Hauptproblem?
Die Frage ist doch: Wo können unsere Athlet*innen ihren Sport betreiben? Sport vor Ort in der Gemeinschaft, im Verein, in einer inklusiven Situation – das ist unser Ziel. Aber wir müssen berücksichtigen, dass viele Athlet*innen in Einrichtungen leben und arbeiten. Und wenn ein Großteil der Sportangebote in Behinderten-Einrichtungen stattfindet, dann müssen auch diese Strukturen gefördert werden, nicht nur die Vereine. Wir brauchen mehr Vernetzung der Sportvereine mit den Einrichtungen der Behindertenhilfe. Das Wichtigste ist doch, dass die Athlet*innen regelmäßig Sport treiben können. Bewegung ist ein Menschenrecht, und entsprechend muss sie auch gefördert werden. Bewegung ist elementar für Gesundheit. Im Bundesteilhabegesetz ist die Bewegung zwar schon angesprochen, aber da muss noch mal weitergedacht werden. Das Thema Assistenzleistungen für Menschen mit Einschränkungen muss weiterentwickelt werden, auch bei der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements von Menschen mit Behinderungen. Ich kann nicht einfach eine Athletin mit einer geistigen Behinderung in einen Sportverein schicken. Da müssen die Trainer*innen vorbereitet sein, da müssen die Mitglieder vorbereitet sein, und es müssen Assistenz und Barrierefreiheit gegeben sein, um die Inklusion von beiden Seiten zu gewährleisten.
Wie wichtig sind die Weltspiele 2023 auf diesem Weg?
Sie sind der Leuchtturm. Wir dürfen nie vergessen, welche Treiberwirkung dieses große Multisportereignis für die gesamte Verbandsentwicklung hat. Ohne Weltspiele wären die meisten der Entwicklungsschwerpunkte der letzten Jahre gar nicht möglich gewesen. Es ist unsere Aufgabe sicherzustellen, dass wir diese Leuchtturmwirkung, die Treiberwirkung und die Sogwirkung der Weltspiele nutzen für eine nachhaltige Entwicklung im Verband. Damit meine ich nicht nur die Verbandsstrukturen, sondern das gemeinsame Ziel der nachhaltigen Entwicklung von #ZusammenInklusiv, Deutschlands größter Inklusionsbewegung. Erst wenn die Athlet*innen Sport vor Ort selbstbestimmt so machen können wie sie wollen, haben wir unser gemeinsames Ziel erreicht. Dafür sind die SO Weltspiele von einer gigantischen Bedeutung.
Darüber hinaus sind sie auch die bedeutendste internationale Sportveranstaltung in Deutschland in diesem Jahr. Wie ordnen Sie den Stellenwert der Weltspiele für Sportdeutschland ein?
Die Special Olympics World Games Berlin 2023 sind das größte Multisportereignis seit den Olympischen Spielen 1972 in München. Ich hoffe, dass die Sportfamilie das so annimmt und so einordnet, dass wir mit den Weltspielen auch zeigen können, dass Deutschland baldmöglichst auch Olympische Spiele und Paralympische Spiele durchführen kann. Ich halte es für eine große Chance, dass international wahrgenommen wird, wozu wir qualitativ in der Lage sind.
Positiv möchte ich hervorheben, dass wir riesige Unterstützung bekommen, sowohl von der Bundesregierung als auch vom Land Berlin, von den kommunalen Spitzenverbänden und den Sportminister*innen der Länder, auch aus vielen gesellschaftlichen Gruppen, von unseren Sponsoren und von vielen Spitzensportverbänden, die mit uns kooperieren, die uns Trainer*innen stellen und deren Athlet*innen mit unseren in inklusiven Teams zusammenwirken. Das ist wirklich hervorragend und wir sind dafür sehr dankbar.
Auch ist es uns gelungen für die Weltspiele eine Medienallianz zu organisieren. Auch das ist einzigartig und ich hoffe, dass wir im Vergleich zu den Nationalen Spielen nochmal einen medialen Schub bekommen: Den brauchen wir auch.
Es gibt also noch einiges zu tun für die Bewegung Special Olympics.
Einen großen Teil der Wegstrecke sind wir schon gegangen. Ich bin jetzt seit gut acht Jahren Präsidentin von SOD, und wenn ich zurückdenke an die Zeit vor einem knappen Jahrzehnt, dann haben wir alle gemeinsam in der SO Familie mit all unseren Unterstützern und Unterstützerinnen schon sehr viel erreicht, aber eben nicht genug. Wir sind erst am Ziel, wenn wir sagen können, regelmäßiger Sport vor Ort für alle ist Normalität.
Das Interview führte Ulrike Spitz.